Wut verarbeiten für geistige Freiheit
"Die beste Rache ist gut zu leben." Oscar Wilde
Mir ist schon bewusst, dass Rache ein niederer Instinkt ist. Und dass ich mit Wut hauptsächlich mich selbst strafe. Aber Wut ist auch gut: sie hat eine riesige Energie. Diese möchte ich kanalisieren und verwandeln.
Judi Chamberlin hat vor Jahren mit einer Arbeitsgruppe zum Thema Empowerment (Selbstermächtigung) unter anderem festgehalten, dass es wichtig ist, Wut zu erkennen und äussern zu lernen – der Ausdruck von Ärger bedeutet nicht automatisch eine "Dekompensation", wie es so gerne dargestellt wird.
Ich möchte also mich selber von Wut befreien.
Schritt 1: Ich fühle Wut im Bauch wenn ich daran denke, was mir im Zusammenhang mit meinen Psychosen widerfahren ist.
Ich war wütend auf Fachpersonen des Gesundheitssystems und von Behörden, auf Helfer, auf Angehörige, auch schon auf Gott und das Schicksal… und auf mich selbst, meine eigene Hilflosigkeit.
Schritt 2: Wut zu äussern fällt mir immer noch ziemlich schwer. Ich empfinde das als Gratwanderung für meine eigene Gesundheit.
Den grössten Teil meines Lebens habe ich Wut unterdrückt, das ist eben nicht so anständig. Die anderen können ja nichts dafür und sowieso der Klügere gibt nach…
Erst nach langjähriger Therapie und viel Übung habe ich begonnen, Wut zu spüren, für mich zu benennen und zu äussern. Daran arbeite ich immer noch und habe schon ziemliche Fortschritte gemacht. Andererseits auch Rückschläge erlitten…, etwa in Form von psychiatrischer Zwangsbehandlung.
Der neuste Streich: eine Zwangsunterbringung mit medikamentöser Zwangsbehandlung und Isolation weil ich angeblich suizidgefährdet gewesen sei (abgeleitet von der Tatsache, dass ich einige Haarsträhnen geschnitten hätte und mein Gesicht vor dem Notarzt verbarg). Im gleichen Bericht steht auch, dass ich gegenüber der Polizei sagte, dass es mir psychisch sehr schlecht gehe und ich dringend Hilfe benötige.
Ich habe mal gelernt, dass eines der Grundprinzipien der Bundesverfassung die Verhältnismässigkeit sei (Art. 5 BV: Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns), also dass eine Massnahme geeignet und notwendig ist. Meine Frage ist: weshalb war Zwang notwendig, wenn ich um Hilfe bat?
Sollte ich zur Klärung dieser Frage "den Rechtsweg beschreiten" und zum Gegenschlag ausholen? Meine Nutzen- und Kostenanalyse ergibt: Kein Gericht dieser Welt kann Gerechtigkeit herstellen. Kein hypothetischer Schuldspruch würde mir Zufriedenheit bringen bringen…
Und damit zurück zu meiner Befreiung (von meiner eigenen Wut):
Ich finde, mir ist durch die Tat des Notarztes, eine Fürsorgerische Unterbringung (FU) zu verfügen, Unrecht getan worden.
Ich bin nur ein kleines bisschen wütend auf den Notarzt. Ich war sehr froh, als er zu uns kam und auch dass er nicht gross mit mir diskutiert hat, hat mir eine grosse Ruhe und Erleichterung gebracht und dafür bin ich ihm und auch der Polizei, die an einem hohen Feiertag arbeiteten, sehr dankbar. Meine Wut betrifft hauptsächlich das System. Begriffe im Bericht wie "infolge diagnostizierter Paranoider Schizophrenie" oder das Kreuzchen im Formular, was bejaht, dass ich in der Vergangenheit bereits eine FU hatte (vor einem Jahr erstmals - die ersten 17 Jahre nach Erstdiagnose war ich kooperativ und trat mehrmals freiwillig in psychiatrische Kliniken ein) liest sich für mich als sei ich bereits vorbestraft und als würde das die erneute Anwendung von Zwang rechtfertigen.
Das ist es, was mich innerlich so zerreisst: wenn ich etwas nicht verstehe. Mir gefällt das Zitat "Wer ein Warum (…) hat, erträgt fast jedes Wie." Also warum ist mir das passiert? Und da komme ich ziemlich schnell wieder zum System. Das System ist das Problem. Ja…
Wie rechne ich mit dem System ab?
Die Schuldfrage: bin ich Opfer oder Täterin? Ich möchte weder das Eine noch das Andere sein. "Wir sehen die Dinge nicht so wie sie sind - sondern wie wir sind." Immanuel Kant
Traurigerweise spielt auch in der westlichen Medizin die Idee der Schuld eine total überbewertete Rolle, finde ich. Der/die Patient/in hat halt (zu viel) geraucht, zu wenig Bewegung, zu viele Drogen und zu wenig Vitamine konsumiert undsoweiter… ("schlechter Patient" - selber schuld) er/sie hat traumatische Ereignisse erlebt, schwere Arbeit verrichtet bis zur körperlichen oder psychischen Schädigung… ("guter Patient" - Mitleid). Ich glaube, mit diesen Einteilungen in Täter und Opfer und Diagnosen sucht der Mensch eine Absicherung, dass ihm "so etwas" nicht passieren kann… aber ganz ehrlich Leute, es gibt keine Sicherheit. Auch ich habe früher Menschen vorschnell in Schubladen gesteckt. Heute bin ich auch ein bisschen dankbar, wenn ich bedenke, was andere Menschen durchmachen mussten... Wie kann man etwas verurteilen, das man nicht versteht?
Schuld ist so ein krasses Phänomen. Wie oft entschuldigt man sich wohl durchschnittlich pro Tag? Man bittet ja schon um Entschuldigung, wenn jemand im Weg steht. Da gefällt mir das italienische "permesso" (Erlaubnis oder "erlauben Sie" würde ich frei übersetzen) viel besser als irgend ein exgüsi, pardon, darf ich oder sorry.
Zur Wortherkunft der "Schuld" ist Duden zu entnehmen, dass es etwas mit "sollen" oder sculan zu tun hat… was mich aber gerade auch nicht wirklich weiterbringt.
In diesem Sinne… Was Solls?
Und dazu fällt mir ein Witz von Onkel Fritz ein: "Soll das Ihr Ernst sein?" - "Nein das ist Fritz, er hat nur Ernst's Mütze auf." Und bezüglich der Wichtigkeit, Ernst zu sein, empfehle ich euch, Oscar Wilde zu lesen.
Und was meine Befreiung angeht?
Auf einem Glücksmomente"-Kalender, den ich von meiner lieben Tante bekommen habe, steht
"Bewahre dir in allen Dingen die Freiheit des Geistes und sieh zu, wohin er dich führt." Ignatius von Loyola
Und dazu fällt mir die Liedstrophe ein "Drum will ich auf immer den Sorgen entsagen und will ich auch nimmer mit Grillen mich plagen. Man kann ja im Herzen stets lachen und scherzen und denken dabei: die Gedanken sind frei."
Und ich tröste mich damit, dass ich es halt auch nicht besser wusste. Mein "warum" ist, dass ich als Mensch auf dieser Erde bin um zu lieben und zu lernen. Und gerade durch meine Fehler habe ich am meisten gelernt. Und so vergebe ich mir selbst. Und ich erlaube mir meine Gefühle zu fühlen und zu akzeptieren… Das, was ich erlebt habe war nun einmal schwierig und ich fühlte mich ganz klein. Es waren intensive Erlebnisse von Bedrohung, Einsamkeit und Unsicherheit.
Ich habe gelesen, dass sich Emotionen auflösen können, wenn ich sie annehme. Und dass ich nicht mein Gefühle bin. Ich bin mehr als die Angst, die Trauer, der Schmerz… Emotionen sind nicht der Kern meines Wesens. Mein Kern ist etwas viel Mächtigeres, Umfassenderes, Tieferes - etwas, das unbeschreiblich ist. Wogegen ich mich wehre, das bleibt; was ich akzeptiere, das kann ich loslassen.
Dankbarkeit und Vertrauen einatmen, Freude und Liebe ausatmen.
Die geplante Abrechnung mit dem System ist damit wohl gescheitert. Aber die Quittung für mich ist ein bisschen Frieden im Herzen und ein bisschen Freiheit im Geist.