Vertrauen

16.05.2021

Was mich an der mir gestellten Diagnose Schizophrenie am meisten beeinträchtigt, ist das Verständnis, dass meine Psychosen eine Krankheit seien und die psychotische, veränderte Wahrnehmung "falsch" sei. Ich dachte jahrelang, ich müsse "wieder normal" werden, um in der Gesellschaft zu funktionieren und somit als "gesund" zu gelten.

Dass mein Erleben, Fühlen, Spüren und Denken nicht "wahr" sein sollen, habe ich in akuten Phasen nicht verstehen können. Als ich jeweils wieder stabiler war, wusste ich, dass viele meiner psychotischen Erlebnisse und Vorstellungen wenig mit der von der Allgemeinheit anerkannten Realität zu tun haben. Es war eine neue Welt, in die ich durch die psychische Krankheit geraten war, zu der ich nicht hinzugehören wollte. Meine bekannte Welt war erschüttert worden, mir war der Boden unter den Füssen weggezogen worden.

Ich versuchte also zu verdrängen, was passiert war, weil ich mich für meine kranken Wahnvorstellungen schämte. Ich wollte Teil der (gesunden) Gesellschaft sein und meinen Beitrag dazu leisten, eine gute Ausbildung abschliessen um dann einer Arbeit nachzugehen um auf eigenen Beinen zu stehen. Ich vergrub die psychotische Erfahrung tief in der dunkelsten Ecke meiner Erinnerungen und versuchte, möglichst nicht aufzufallen.

Viele Jahre vergingen und ich dachte, ich gehöre zu dem "glücklichen" Drittel, die nur eine einmalige Psychose im Leben durchmachen. Ich absolvierte mein Studium und arbeitete fleissig. Bis zur zweiten Psychose. Ich spürte bereits einige Wochen vor der zweiten stationären Behandlung Frühwarnsymptome. Da ich es nicht wahrhaben wollte, dass ich wieder "krank" werden würde, habe ich diese Anzeichen verdrängt und möglichst "normal" weitergemacht. Bis zum völligen Zusammenbruch meiner Psyche.

Dank der Unterstützung von Angehörigen habe ich mich auch nach der zweiten Psychose wieder ziemlich gut erholt und konnte nach einigen Monaten wieder arbeiten, war also definitionsgemäss wieder "gesund". Und das trotz der Diagnose Schizophrenie. Diese habe ich weiterhin versteckt gehalten, nur mein nahes Umfeld wusste davon. So versuchte ich den Spagat zwischen zwei Welten - die der psychisch Kranken und die der fleissigen Angestellen. Ich versuchte, möglichst gute Arbeit zu leisten, damit niemand merkte, wer ich wirklich bin. Nur wenigen neuen ArbeitskollegInnen habe ich von meiner Vergangenheit in der Psychiatrie erzählt. Ich habe aber immer darauf geachtet, dass mich Menschen zuerst einige Zeit kennenlernen konnten, bevor ich ihnen davon erzählt habe. Sie haben interessiert und mitfühlend auf mein "Coming-Out" reagiert. Tatsächlich haben die meisten Menschen selber mehr oder weniger nahe Angehörige, die Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen haben. Es ist zwar ein Tabu-Thema, das aber sehr viele Personen beschäftigt. Und gerade weil man nicht darüber spricht, gibt es sehr viele Missverständnisse und Falschinformationen. Man weiss vielleicht, dass ein Cousin an Schizophrenie erkrankt ist, aber was das konkret für ihn bedeutet, traut man sich nicht zu fragen und informiert sich allenfalls über Google oder Wikipedia und hofft, dass man genetisch nicht zu ähnlich ist, dass man selbst auch davon betroffen sein könnte. Die meisten Diagnosen werden auch Menschen unter 30 Jahren gestellt, das heisst, wenn ihr über 30 seid, könnt ihr jetzt aufatmen. Ihr werdet wohl nicht diese 1 von den 100 Personen werden, die statistisch gesehen an Schizophrenie erkrankt.

Ich wünsche diese Diagnose niemandem. Und dennoch bin ich heute froh, dass ich mehrere Psychosen in meinem Leben hatte. Denn inzwischen habe ich mein eigenes Verständnis von Psychosen entwickelt. Sie haben mich viel gelehrt, über mich, über andere Menschen, über das Gesundheitssystem, über Gott und die Welt. Ohne die erlebten Psychosen wäre ich heute nicht die Person, die ich bin.

Das Schwierigste an meinem Genesungsweg war (und ist) für mich, der Wiederaufbau des Vertrauens in mich selbst und andere Personen. Zum Glück habe ich ein grosses soziales Netz an lieben und interessierten Menschen, welche mich in guten wie in schlechten Zeiten unterstützten. Wirklich zugehörig fühlte ich mich aber weder zu der Welt der Gesunden noch zu der Welt der psychisch Kranken.

Erst durch die Peer-Ausbildung habe ich erstmals wirklich Gleichgesinnte kennengelernt. Auch wenn wir uns nicht alle die gleiche Diagnose teilen, habe ich mit den Peers eine für mich neuartige Möglichkeit des Austauschs und Lernens über mich und das Leben gefunden. Das Gefühl, endlich dazu zu gehören und zu erleben, wie "normal" die "psychisch Kranken" sind, war wie ein Ankommen in einem Zuhause, das ich endlich gefunden hatte. Festzustellen, wie reflektiert meine Kolleginnen und Kollegen sind, wie feinfühlig, wie kreativ, fleissig, humorvoll, stark, intelligent und liebevoll sie sind (trotz all dem Erlebten), half mir, mich selbst zu akzeptieren und lieben zu lernen.

Auch darüber zu sprechen, was wir für Erfahrungen in der Psychiatrie gemacht haben, hat mich erleichtert und mir geholfen, einen inneren Frieden zu finden. Als eine besondere Peer zu mir gesagt hat, dass Wahrnehmungen nie falsch sind, weil sie alle individuell sind, ist mir ein Licht aufgegangen. Ich bin nicht "falsch", selbst wenn ich psychotisch bin. Es gibt viele Dinge, die ich noch nicht verstehe, aber das heisst nicht, dass es sie nicht gibt. Was ich weiss, ist, dass auf der Welt viele sehr schlimme Dinge passieren aber auch, dass es noch mehr wunderschöne Momente im Leben gibt, für die es sich lohnt, zu kämpfen.

Und so erkämpfe ich mir das zerstörte Vertrauen zurück, indem ich die "Schuld" von mir wegschiebe, ohne sie jemand anderem zu zu schieben. Ich vergebe Menschen, (die mich nicht darum gebeten haben,) für meinen Seelenfrieden. Und ich akzeptiere, dass ich einzigartig bin (wie jeder von uns), dass ich nicht in erster Linie in der Gesellschaft funktionieren muss, um gesund zu sein oder dazu zu gehören. Wenn ich meine Gesundheit gefunden habe, kann ich der Gesellschaft sehr viel zurückgeben. Darauf vertraue ich.