konstruktiv kritisch

24.05.2021

Vor über 10 Jahren habe ich mal das "Kompliment" von einem Italiener erhalten, die kritischste Frau zu sein, die er kenne. Ist mal was anderes, als "deine Augen sind so schön" (:

Er hat(te) wohl tatsächlich auch Recht. Ich stelle Vieles in Frage und bin bzw. war auch ganz schön selbstkritisch. Allerdings finde ich Kritik nicht unbedingt negativ. Es gibt ja auch die konstruktive Kritik, die mir die Chance gibt, mich zu verbessern oder an mir zu arbeiten. Und grundsätzlich finde ich es sehr schön, wenn man seinen eigenen Kopf zum Denken gebrauchen kann und es einen Austausch gibt. Wir haben ja nicht umsonst die Meinungsfreiheit.

Mir ist aber wichtig, niemanden unnötig zu verletzen. Deswegen bin ich immer vorsichtig damit, meine Gedanken auszuformulieren. Ich war sowieso schon immer eher ruhig und schüchtern. Und meine Psychiatrieerfahrung hat mich noch einmal ruhiger gemacht. Einerseits weil ich nichts Falsches sagen wollte (wegen den möglichen Konsequenzen) und andererseits weil ich nicht mehr viel zu sagen hatte, weil mich einfach nichts mehr interessierte bzw. alles egal war.

Seitdem ich wieder zu meinem altbewährten Medikament wechseln "durfte" und eine relativ kleine Dosis (unter der ärztlichen Empfehlung), bin ich wieder gesprächiger und manchmal sogar etwas "frech". (Dieses Kompliment hat mich gefreut).

Mir wurde auch schon mal gesagt, ich habe kein gutes Pokerface. Das kann man ja einerseits auch als Kompliment verstehen, dass ich ehrlich bin. Andererseits finde ich es etwas beunruhigend, dass Menschen meine Gedanken lesen könnten. Die sind ja tatsächlich manchmal ziemlich kritisch und ich wollte ja eigentlich nie auffallen. Im Mittelpunkt stehe ich heute noch nicht gerne.

Aber inzwischen bin ich auch sehr froh, wenn mir jemand zuhört. Denn ich habe schon so Einiges zu sagen. Lieber als reden tue ich allerdings schreiben. Vielleicht merkt man das. Wahrscheinlich ist das auch weil ich dann mehr Zeit habe, zu Überlegen, also vielleicht weniger "Falsches" erzähle. Obwohl das mit richtig und falsch ja eh total überbewertet wird. Finde ich. Und solange ich es als meine Meinung und nicht als "Wahrheit" erzähle, kann es ja gar nicht falsch sein. Da wären wir wieder bei der Meinungsfreiheit.

Also ich habe mir angewöhnt, wenn ich etwas kritisieren möchte, dass ich zunächst auch positive Kritik anbringe. Wir Schweizer machen ja eher selten "grundlos" Komplimente. Ich glaube die Anglo-Amerikaner sind da schon etwas grosszügiger. Die "lieben" z.B. deine Frisur oder die Kellner finden deine Menüwahl "exzellent". Nagut, die sind auch aufs Trinkgeld angewiesen. Aber ich finde, man kann fast immer etwas Nettes zu jemandem sagen. Die Person wird sich höchstwahrscheinlich freuen.

Aber manchmal muss man auch mal Kritik anbringen. Kürzlich habe ich z.B. einen Arzt darauf aufmerksam gemacht, dass die Art, wie er über eine Patientin gesprochen hat, mich gestört hat. Also um ehrlich zu sein und mich selber zu kritisieren, habe ich dabei nicht besonders nette Worte gebraucht. Ich denke, es war das Adrenalin und die Wut, die aus mir sprach. Und wenn ich ein nächstes Mal innerlich zuerst auf 10 zähle, schaffe ich es bestimmt auch noch, meine Kritik sogar einem (unsensiblen) Arzt gegenüber freundlich zu formulieren. Ich will mich ja micht auf so ein Niveau runterlassen sondern die Chance erhöhen, dass der Arzt sich auch mal selber reflektiert und meine konstruktive Kritik annimmt.

Aber wie ihr vielleicht schon wisst, habe ich mit Ärzten schon ein paar negative Erfahrungen gemacht und bin deshalb nicht ganz so unbefangen und gelassen, wie es für so eine erwachsene Reaktion hilfreich wäre. Aber ich arbeite an mir. Und ich weiss auch, dass es sehr freundliche und empathische Ärzte gibt. Nur leider sind mir davon bisher relative wenige begegnet. Trotzdem will ich eigentlich Grösse zeigen und nicht Auge um Auge Vergeltung üben. Auch dieser Arzt, den ich unmöglich fand, will sicherlich nur glücklich sein und einen guten Job machen. Wahrscheinlich ist er nicht so empathisch, das wird wohl im Medizinstudium auch nicht gelehrt. Er muss sicherlich viel Verantwortung tragen und viel arbeiten und verdient wohl trotzdem nicht allzu viel Geld - gemessen an seiner Verantwortung. Ich glaube, Arzt sein ist eher eine Berufung als ein Beruf. All das hätte ich berücksichtigen sollen, bevor ich ihn von der Seite blöd angemacht habe. Aber es ist auch mein Job als Peer, die Patienten zu vertreten und das habe ich gemacht. Ich glaube, der Arzt hat mir gar nicht wirklich zugehört, von daher habe ich schon viiiel zu viel darüber reflektiert.

Aber ich denke, dieses Beispiel zeigt ganz gut, wie wichtig Kritik ist und wie schwierig es ist, konstruktiv kritisch zu sein.