Heilung?

06.09.2025

Heilung verstehe ich als Ganzwerden, alle meine Anteile in mein Leben zu integrieren, und dasvist möglich. Jeder Mensch hat Schatten- und Lichtanteile und jeder Lebensweg ist so wundervoll einzigartig. Das wird in der bisherigen Welt bzw. der Leistungsgesellschaft durch den Wettbewerb total ausgeblendet und leider haben viele ihre natürliche Spiritualität und den Glauben verloren.

Ich wurde rückblickend deshalb psychotisch, weil ich mich total verloren hatte, weil ich nicht wusste, wer ich bin. Anstatt auf die Spur zu gehen, das herauszufinden, war mir wichtiger, in der Gesellschaft gut zu funktionieren, hilfreich für andere zu sein, niemandem zur Last zu fallen, von anderen gelobt und gemocht zu werden… Da hat irgendwann meine Seele rebelliert, weil ich es auf Verstandesebene nicht geschafft habe, zu erkennen, dass ich in meinem Leben der wichtigste Mensch bin und mich für mich selbst einsetzen muss.

Psychosen halte ich nicht mehr für eine Krankheit, ich sehe sie als eine gesunde Reaktion, um uns zu warnen, dass etwas nicht stimmt. Für mich ist Schizophrenie, wenn wir im Leben die Verbindung zu unserer wahren Essenz verloren haben, die Seele ist sozusagen von unserem menschlichen Dasein abgespalten. Diese Verbindung können wir wieder aufbauen, und das ist für mich Heilung.

Den Weg der Selbstheilung zu gehen, ist nicht der bequeme Weg, und auch mit "Wachstums-Schmerzen" verbunden… Wenn man z.B. etwas viel zu lange mit aller Kraft festgehalten hat, schmerzt uns das Loslassen der Schnur, die sich in die Hand gedrückt hat, in dem Moment. Das heisst aber nicht, dass das Loslassen falsch ist, im Gegenteil.

Durch die Psychosen habe ich angefangen, mich mit "nicht beweisbaren" Dingen zu beschäftigen, eine für mein früheres Ich total fremde Welt, die mich aber mittlerweile auch trägt, mir meinen Lebenssinn gezeigt hat. Immer wieder zurückzukehren in die Alltagswelt war aber ebenso wichtig, um nicht abzudriften.

Heilung braucht viel Zeit, (Selbst-)Mitgefühl und Vertrauen. Ein Bambusbaum macht die ersten fünf Jahre nur Wurzeln unter der Erde und plötzlich, wenn er sichtbar anfängt zu wachsen, ist er innert sechs Wochen 90 Fuss hoch…

Wenn man bereits Psychosen hatte, zeigt das eine besondere Verletzlichkeit oder Feinfühligkeit. Es war für mich wichtig, herauszufinden, was für mich "Stress" bedeutet bzw. was ich für ein ausgeglichenes Leben brauche, was mir gut tut und was ich vermeiden oder reduzieren möchte. Wenn man sich z.B. einen Bänderriss am Fuss zugezogen hat, der wieder geheilt ist, ist in den nächsten Jahren die Chance für eine erneute Verletzung grösser, selbst wenn es nur ein kleiner Misstritt ist, kann es einen wieder zurückwerfen. Aber wenn man dran bleibt, sich weiter stärkt und vielleicht die Eiskunstlauf-Profikarriere aufgibt, muss es nicht wieder zu einem Bänderriss kommen. Und es gibt viele schöne, sinnerfüllte Lebenspläne, vielleicht etwas noch Passenderes als eine Eiskunstlauf-Profikarriere.

Menschen mit der Diagnose Schizophrenie können sehr leistungsfähig sein, wenn sie in ihrem Flow sind. Bspw. kann Unterforderung ebenso stressig sein wie ständige Überreizung.

Mir hat es geholfen, meinen Körper besser zu achten, mit Yoga, mit Naturspaziergängen, mit frisch zubereitetem Essen mir selbst etwas Gutes zu tun und immer wieder Alleinzeit, um zur Ruhe zu kommen, meine Bedürfnisse zu spüren, freundlich Grenzen setzen. Zur Verarbeitung meiner Psychose- und Psychiatrieerfahrungen und zum Finden meines eigenes Verständnisses meiner Erlebnisse hat mir das Schreiben sehr geholfen. Eine Prise authentische Alltags-Verrücktheit trägt auch dazu bei, dass ich immer wieder eine gesunde psychische Balance finden kann.

Ein grosser Stolperstein können Neuroleptika sein. Das Reduzieren braucht viel Zeit, mehr als drei Jahre (siehe z.B. innercompass initiative oder outro health) und Fachleute wissen darüber sehr wenig. Ohne Neuroleptika ist man viel dünnhäutiger, hat plötzlich wieder Gefühle, mit denen man vielleicht nie gelernt hat, umzugehen. Entzugserscheinungen werden einfach als Rückfall interpretiert und die Betroffenen werden überzeugt, dass sie die Neuroleptika eben brauchen.

Meine Erfahrung war, dass die Psychiater nicht für dieses Risiko verantwortlich sein wollten. Nach monatelangen Diskussionen hat ein früherer Psychiater, mit dem ich in Absprache die Medikamente "ausgeschlichen" habe, gesagt, ich müsse nun nicht mehr kommen. Obwohl ich gerade in dieser sensiblen Phase die Unterstützung einer Fachperson, die mich kennt, gebraucht hätte, fühlte ich mich fallen gelassen weil ich eine andere Meinung hatte über meine Behandlung als er.

Es gibt Berichte, dass insbesondere die akut psychotischen, ganz verrückten Phasen grosses Potential haben, etwas Wichtiges im Leben in ein neues Licht zu rücken und das kann auch für das Umfeld eine heilsame Chance sein. Weil Psychosen und Schizophrenie so tabuisiert und stigmatisiert sind, ist dieser Zustand auch für Angehörige natürlich sehr beängstigend. Leider gibt es sehr viele Vorurteile und solche Ängste blockieren eine Heilung… Eine liebevolle, freundschaftliche Begleitung auf Augenhöhe ist sehr wichtig.

Es sollte meiner Meinung nach nicht das Ziel sein, gewisse beängstigende Wahrnehmungen oder Phänomene (Stimmen, Halluzinationen…) loszuwerden, sondern die Angst davor loszuwerden. Dafür musste ich lernen, Vertrauen in mich und die Welt aufzubauen.

Heilung ist für mich kein Endzustand, eher ein Prozess, und wir lernen das ganze Leben lang. Durch die Psychosen habe ich mich mit meinem Lebenssinn beschäftigt und zum Glauben an die Liebe gefunden. Ob ich wieder psychotisch werde und wie lange meine "stabile Phase" dauert, weiss ich nicht aber ich weiss aus meiner Erfahrung, dass ich getragen bin und Krisen durchstehe. Ich habe erfahren, dass ich auf das Gute in der Welt und in mir vertrauen darf. Dieses Vertrauen heilt.

Auch (psychisch) gesunde Menschen wissen nicht, ob und wie lange sie gesund bleiben. "If you have a mind you can lose it." (Edward Podvoll). Psychosen sind zutiefst menschliche Erfahrungen (wie träumen, wie total verknallt zu sein, wie schwanger zu sein...) und gar nicht so schlimm, wenn wir nicht so viel Angst davor haben. Sie sind sogar sehr lehrreich...