gegen den Strom schwimmen

29.04.2021

Ich habs gerade nochmal überprüft, ich stinke nicht. Kann also kein toter Fisch sein, ein gutes Zeichen. Denn nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. In den letzten Monaten ist mir immer mehr bewusst geworden, wie viele Vorteile es hat, wenn man nicht alles gleich wie "die Anderen" machen muss. Eigentlich gibt es "die Anderen" ja gar nicht wirklich als Gruppe, denn wir Menschen sind alle einzigartig. Und darauf können wir ruhig stolz sein, jeder (und natürlich jede) von uns.

Ich bin natürlich nicht stolz auf meine Diagnose, damit habe ich ja so meine Mühe. Ich bin auch nicht stolz darauf, dass ich eine (schwere) psychische Erkrankung habe. Aber ich bin stolz darauf, wie ich mit meinen Defiziten umgehen kann. Und ich bin stolz auf meine besonderen Fähigkeiten, von denen ich genauso viele oder sogar noch mehr habe, als Schwächen.

Meine Psychosen sind auch nicht nur eine Schwäche, sie haben mich Vieles gelehrt. Ich habe dann eine viel offenere Wahrnehmung und spüre sehr vieles, was nicht jeder kennt. In anderen Kulturen werden Menschen mit Psychosen als Weise oder Schamanen anerkannt oder sogar verehrt. Oder früher waren Menschen auch in unserer Kultur Heilige, die einen direkten Draht zu Gott oder Engeln hatten. Ihr müsst jetzt natürlich aber nicht vor mir niederknien :) Ich wollte nur einmal klarstellen, dass ich auch sehr schöne Dinge erlebt habe in meinen Psychosen. Darüber habe ich in früheren Texten ja bereits geschrieben.

Unsere heutige westliche medizinische Sichtweise von psychischen Krankheiten finde ich ziemlich schwierig. Mit dem Begriff der psychischen Krankheit hab ich ja so meine Mühe. Vielleicht ist Beeinträchtigung ein besseres Wort. Wobei ich mich nicht so sehr von meinen Psychosen beeinträchtigt fühle, sondern vielmehr vom Umgang unserer Gesellschaft, unserers Systems, unserer psychiatrischen Versorgung der Psychosen.

Die Schweiz hat glaube ich eine der höchsten Raten von "Fürsorgerischen Unterbringungen" von Menschen gegen deren Willen in der Psychiatrie. Vielleicht liegt das ja daran, dass wir "kranker" sind, als die meisten Gesellschaften. Ich behaupte aber, wir haben eine geringere Toleranz für Menschen, die "anders" sind, als es sich gehört.

Ich habe einmal die Begründung für eine Fürsorgerische Unterbringung eines Mannes gehört, der sich "distanzlos" verhalten habe. Er redete mit allen möglichen Passanten und erzählte dabei wohl ziemlich verrückte Dinge. Er war aber weder aggressiv noch gefährlich, weder für sich noch andere. Trotzdem wurde er von der Polizei in eine Psychiatrische Klinik eskortiert. Wo er dann auch einige Monate bleiben musste und starke Medikamente in einer sehr hohen Dosis bekam und einige Wochen in Isolation verbringen musste. In einem älteren Klinikgebäude, wo es keine Toilette und keine Waschgelegenheit im Isolationszimmer gab. Er durfte glaube ich 2-3 Mal pro Tag die Toilette benutzen, das schon. Aber dennoch finde ich das ziemlich menschenunwürdig. Wofür haben wir denn diese super Menschenrechte, wenn so etwas in unserer hochentwickelten sozialen Gesellschaft immer noch Alltag ist? Vielleicht glaubt ihr mir auch gar nicht. Aber das liegt auch nur daran, dass sich kaum jemand traut, darüber zu sprechen. Es geht hier wiedermal um das oft vergessene Gefühl der Scham. Und die meisten Psychiatrie-Patienten haben kein Jura-Studium abgeschlossen. Das Projekt "Vertrauensperson" (diese sollen Patienten bei der Überprüfung des "FU" beistehen und deren Interessen wahrnehmen) ist auch erst am Anfang. Dass Menschen in psychiatrischen Institutionen den Fachpersonen ausgeliefert sind, ist keine Ausnahme. Das erwähnte Beispiel ist auch nicht "schon lange her" oder so. Das ist die traurige, schockierende Realität, wie man in unserem Gesundheitssystem mit "psychisch Kranken" umgeht.

Mich hat das, was ich in der Psychiatrie erlebt habe, sehr ruhig gemacht - aber nicht im positiven Sinn. Ich habe für mich gelernt, wenn ich gewisse Gedanken, die mich beschäftigten, gar nicht ausgesprochen habe. Weil sie kaum jemand verstanden hat. Die Fachpersonen wollten mir zwar helfen, indem sie mir Medikamente gaben, z.B. gegen meine Ängste. Diese gingen davon leider nicht weg oder nur kurzfristig dank Benzos. Benzodiazepine darf man ja nicht langfristig nehmen, da sie schnell süchtig machen. Aber wenn ich nicht über meine Ängste reden "darf" und es keine Wunderpille dagegen gibt, werde ich noch nur kranker durch das Schweigen. Die anderen Menschen hatten glaube ich das Gefühl, es gehe mir besser, weil ich so ruhig war. Dass ich über 20 Kilo innert weniger Wochen zugenommen habe und nur noch geschlafen habe und keine Kraft und Interesse mehr an gar nichts hatte, war eine Nebenwirkung, die man wohl hinnehmen musste.

Erst seit relativ kurzer Zeit habe ich gelernt, über meine Gefühle zu sprechen. Ich bin damit immer noch vorsichtig, wem ich was zumute. Einerseits, um niemanden zu belasten aber andererseits auch, um mich zu schützen. Ich will nicht wieder mehr Medikamente oder ein noch neueres, noch besseres Präparat. Ich habe davon sowas von die Schnauze voll.

Schon möglich, dass es Patienten gibt, die gut auf Neuroleptika reagieren. Aber ich gehöre nicht dazu und habe nie dazu gehört. Und ich bin nicht mehr bereit, dem Frieden zuliebe meinen Körper kaputt zu machen.

Zum Glück habe ich viele neue Möglichkeiten gelernt, wie ich auf meine psychische Gesundheit achten kann, sogenannte Skills. Besonders hilfreich finde ich Achtsamkeit im Alltag, eine ausgewogene Ernährung, Bewegung, kreativ sein, meditieren. Vielleicht bin ich jetzt ein bisschen esoterisch, aber lieber bin ich das, als mich selber dafür zu hassen, dass ich nicht mutig genug bin, für mich selber einzustehen.

Ich versuche jetzt, stolz darauf zu sein, wenn mich jemand verrückt nennt. Denn ich bin etwas Besonderes und gehe meinen eigenen Weg.