die Schuldfrage
"hat Medikamente nicht genommen" "hat Drogen konsumiert" "ist zu sensibel" "zu empfindlich" "sucht nur Aufmerksamkeit" "lässt sich gehen" "ist faul" "zu träge" "ist gefährlich" "denkt zu negativ" "ist rücksichtslos" "zu selbstbezogen" "egoistisch" "übertreibt" "Hypochonder" "ist unberechenbar"
"sollte sich mal zusammenreissen, nicht so gehen lassen, sein Verhalten ändern, Verantwortung übernehmen"
"ist selber schuld"
Es gibt viele Vorurteile im Zusammenhang mit psychischen Krisen. Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei nicht um "Krankheiten des Gehirns", wie das oft wissenschaftlich erklärt wird. Man kann psychische Krisen nicht direkt vergleichen mit einem Beinbruch oder mit Diabetes. Es gibt keine "einfache" Heilung im Sinne von einem Gips, Schmerzmittel oder Insulin, die den kranken Zustand reparieren oder korrigieren.
Meiner Meinung nach haben psychische Krisen vieles mit der Seele oder dem Geist zu tun, nicht nur mit dem Gehirn. Ich bin überzeugt, dass unsere heutige westliche Wissenschaft vieles noch nicht erklären kann. Es geht bei der psychischen Gesundheit nicht nur darum, wieder in der Gesellschaft zu funktionieren. Mich persönlich hat die Sinnfrage stark beschäftigt und war wohl ein wichtiger Faktor für meine psychische Krise. Von daher sehe ich meine sogenannte Krankheit als einen Ausdruck meiner Seele für ein Ungleichgewicht in meinem Leben. Ich habe sehr "kopflastig" gelebt, war sehr rational, leistungsorientiert, perfektionistisch ohne mich wirklich selbst zu kennen oder gar zu lieben.
Wenn man heute die WHO oder den ICD-Katalog mit immer mehr psychiatrischen Diagnosen in Frage stellt, wird man schnell als unvernünftig abgeschrieben.
Ein Psychologieprofessor hat in einem Referat die Wirksamkeit von Psychopharmaka als Effekt eines wundervollen Narrativs bzw. biologisch-psychiatrischen Mythos bezeichnet. Psychopharmaka werden seit Jahrzehnten überall beworben und es ist überall nachlesbar, dass sie wirksam seien, weshalb sie auch tatsächlich wirken. Rein wissenschaftlich ist jedoch der Serotonin-Mangal widerlegt. Ähnliches habe ich ja bereits über die Dopamin-Hypothese geschrieben, welche nach Jahrzenten Forschung immer noch nicht bewiesen werden konnte.
Ich fände es schön, wenn wir anerkennen könnten, dass wir kaum etwas wissen über die Entstehung, Ursachen oder den Sinn von psychischen Krisen. Wir können zwar Symptome beschreiben und diese verschiedenen Diagnosen zuordnen. Aber schlussendlich ist jeder Mensch einzigartig und ich persönlich finde diese Schubladisierung wenig hilfreich. Im Gegenteil sogar, eine Diagnose bewirkt eine Art falsche Sicherheit des Gegenübers. Man kann ja schnell nachlesen, was die Diagnose bedeutet, und dann weiss man Bescheid. So einfach ist es eben nicht. (Und übrigens, es gibt keine Sicherheit. "If you have a mind, you can lose it.) Mein Vorschlag wäre, sämtliche Diagnosen abzuschaffen und von mir aus den Begriff "Burn-Out" für alle psychischen Krisen zu verwenden. Burn-Outs sind nämlich gesellschaftlich relativ gut angesehen, weil man ja fleissig ist und sich überarbeitet hat. Allerdings ist Burn-Out keine Diagnose. Aber ich verstehe, dass Menschen lieber von Burn-Out als von Depression, Borderline, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörung etc. reden, wenn sie sich anderen erklären.
Ich fände es schön, wenn wir im Austausch bleiben, egal in welcher Schublade wir gerade stecken. Dass wir uns nicht (gegenseitig) auf einen (Berufs-)Titel oder eine Diagnose reduzieren. Dass wir uns als Menschen begegnen. Und bei der Kommunikation finde ich es wichtig, nicht zu werten, sondern versuchen, zu verstehen.
Vielleicht ist es ja gar nicht wichtig, ob eine Person "selbstverschuldet" psychische Probleme hat. Die Schuldfrage finde ich ja extrem spannend. Gibt es überhaupt einen freien Willen? Zum Beispiel beim Autofahren hat man ja manchmal nicht mal 1 Sekunde Zeit um zu reagieren... ist man da wirklich frei in seiner Entscheidung? Schuldfähig ist man, wenn man in der Lage ist, das Unrecht der Tat zu erkennen und gemäss dieser Einsicht zu handeln. Diese Handlungsfreiheit kann doch eigentlich nur bestehen, wenn man sämtliche Informationen hat und alle Optionen offen stehen... Freiheit beginnt im Kopf. Also wenn ihr, liebe Leserinnen und Leser, euch fragt, wie man mit "psychischen Kranken" am besten umgeht, wäre mein Vorschlag, fragt diese Person. Hört ihr aufmerksam zu und seid mutig, Fragen zu stellen. Es gibt keine falschen Fragen.
Was ich mir (als Betroffene einer "chronischen psychischen Beeinträchtigung") von meinem Gegenüber wünsche, ist nicht zwingend Verständnis aber Akzeptanz und ernst genommen zu werden. Ich wünsche mir Mitgefühl aber bitte kein Mitleid. Schön finde ich echtes Interesse und Offenheit für einen Austausch auf Augenhöhe.
"Don't judge until you've walked a mile in someone else's shoes."