Balance und Zeit

03.04.2021

Ohne Dunkelheit können Sterne nicht leuchten. Erst durch meine Krisen habe ich das Leben so richtig lieben gelernt. 

In den Jahren v.P. (vor Psychosen) war ich sehr rational, kopflastig, perfektionistisch und gleichzeitig minimalistisch unterwegs. Dann, im Jahr 2004 haben sich meine Gedanken verselbständigt und mein Kopf hat mich verrückt gemacht. Dadurch habe ich erkannt, wie viel wir mit unserem Denken beeinflussen kann. Ein weiser Mensch (Prof. H. Walach) hat einmal gesagt: Unser Bewusstsein ist der Raum, in dem Veränderung möglich ist, in welchem wir Beziehung(en) gestalten, Emotionen, Realität gestalten. Sein Vorschlag war, der Sauberhaltung bzw. Hygiene des Geistes täglich so viel Raum zu lassen wie der Körperhygiene. Es geht darum, zu lernen, sein Bewusstsein zu schulen.

Dazu fällt mir das Stichwort Achtsamkeit ein. Ein etwas abgenützter Begriff aber eigentlich ein sehr wichtiges Konzept um im Hier und Jetzt zu leben. Oftmals bei psychischen Krisen lebt man in der Vergangenheit oder macht sich Sorgen um die Zukunft. Die Vergangenheit kann man aber nicht ändern und wer weiss, was die Zukunft bringt. Das Leben ist jetzt. Und nicht vergessen, zu atmen. Dabei geht es nicht nur darum, frische Luft zu bekommen, sondern auch, das loszulassen, was wir nicht (mehr) brauchen.

Ich musste lernen, dass mein Verstand, meine Gedanken, die Vernunft, nicht alles sind, was wichtig ist im Leben. In meiner Jugend habe ich die Signale meines Körpers kaum wahrgenommen und fühlte mich nie besonders wohl in meiner Haut. Das hat sich durch die krasse Gewichtszunahme als "typische Nebenwirkung" von Neuroleptika nicht gerade gebessert. Immerhin habe ich dadurch angefangen, mich mit Ernährung zu beschäftigen und habe viel über Nahrungsmittel und Kochen gelernt. Meiner Ansicht nach ist eine ausgewogene Ernährung etwas vom wichtigsten, was wir selbst für unsere (psychische) Gesundheit tun können. Auch sehr wichtig ist für mich Bewegung. Viele Menschen sitzen fast den ganzen Tag z.B. am Computer im Büro und sind danach zu müde oder haben keine Zeit, um sich selbst noch etwas Gutes zu tun. Eigentlich ist unser System krank, nicht die Menschen. Mein Vorschlag lautet deshalb, zurück zur Natur. Der Mensch ist keine Maschine, dem man, wenn er krank (kaputt) ist, die richtige Pille einwerfen kann, sodass er wieder funktioniert. Wir Menschen sind Lebewesen mit Herz und Verstand, mit Geist und Körper. Nicht nur unsere Ernährung sollte ausgewogen sein, sondern auch unsere Aktivitäten und Ruhezeiten. Aber auch hier meine Bitte, nicht alles auf die Goldwaage zu legen. Schon möglich, dass acht Stunden Schlaf im Durchschnitt gesund sind. Aber kein Mensch ist eine Statistik. Ich persönlich brauche im Winter und Herbst mehr Schlaf als in den Frühlings- bzw. Sommermonaten. Ich bin dafür, gut auf unseren eigenen Körper zu achten und Signale ernst zu nehmen. Sei es Hunger, Durst, Bewegungsdrang, Müdigkeit, Langeweile oder Reizüberflutung - Selbstfürsorge (inkl. Grenzen setzen) ist für ein gesundes Leben unentbehrlich. Für mich hat es bedeutet, egoistischer zu sein. Und zwar nicht im negativen Sinn. Die christliche Nächstenliebe sagt es ja nicht anders: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Liebe dich selbst wie deinen Nächsten. Versuchen wir doch mal, uns selbst ein guter Freund zu sein.

Um ausgeglichen zu sein - psychisch gesund zu sein, zufrieden zu sein, glücklich zu sein... ist es meiner Meinung nach weniger wichtig "stabil" zu sein als vielmehr beweglich zu bleiben, um die Balance zu halten. Man kann nicht jeden möglichen Stress versuchen zu vermeiden, sonst verpasst man das Leben.

Ich weiss sehr gut, dass das Leben nicht immer schön ist. Aber ich denke positiv weil ich lebendig bin. Auf Italienisch klingt es viel cooler: io penso positivo perché son' vivo (Jovanotti).