Arbeit ist das halbe Leben

18.05.2021

Ich bin gerade ziemlich müde. Liegt es vielleicht daran, dass ich seit 6 Uhr wach bin? Aber heute arbeite ich ja gar nicht. Was habe ich überhaupt gemacht? Habe ich überhaupt das Recht, müde zu sein? Lieg es an den Medikamenten oder vielleicht am Wetter, den Hormonen, zu wenig Kaffe oder Wasser oder Vitamine oder alles zusammen?

Vielleicht sollte ich einfach eine kleine Siesta einlegen und die Frage erledigt sich von selbst. Aber gerade hatte ich wieder eine Idee für einen Text, die mich die Müdigkeit fast vergessen lässt. Also erstmal möchte ich festhalten, dass nicht nur die bezahlte Arbeit "echte" Arbeit ist. Wahrscheinlich werden mir jetzt alle Mütter und Hausmänner zustimmen. (Das mit der "Gender"korrekten Sprache meine ich nicht immer so wörtlich und weiss eigentlich dass man - äh frau - es genauer nehmen müsste aber ich finde es einfach total unleserlich immer alle Mitglieder und Mitgliederinnen (ja das war Absicht) unserer Gesellschaft auszuschreiben). Insbesondere seitdem ich (teilweise) "arbeitsunfähig" bin, habe ich öfters ein schlechtes Gewissen, dass ich zu wenig leiste. Obwohl ich eigentlich auch weiss, dass ich viel geleistet habe und immer noch leiste. Ich arbeite ja inzwischen wieder teilzeit als Peer. Aber eben nur teilzeit. Und was ich mit dem Rest meiner Zeit mache bzw. gemacht habe, bevor ich als Peer angefangen habe, ist nicht so einfach zu erklären. Man kann es eben nicht so genau festhalten, wie wenn man 42 pro Wochen im Büro sitzt und dann seinen Feierabend und das Wochenende zufrieden geniessen kann.

Die Pandemiesituation war diesbezüglich ziemlich gut für mein Ego. Es gibt noch ganz viele "normale" Menschen, die auch nicht mehr (im Büro) arbeiten (dürfen). Ich habe also ein weniger schlechtes Gewissen, wenn ich unter der Woche einfach spazieren oder einkaufen gehe. Früher habe ich immer gehofft, dass mich niemand sieht, der mich kennt. Sonst wäre ich in Erklärungsnot geraten. Ich hätte erklären müssen, dass ich "krank" bin, obwohl ich mich nicht krank fühle und auch nicht so aussehe. Ich hätte vielleicht erklären müssen, dass ich in Therapie bin und ein Psychiater mich krank geschrieben hat. Oder schlimmer noch, dass ich in stationärer Therapie bin. Zum "Glück" sind ja die meisten Kliniken ziemlich abgelegen, sodass man da nicht zufällig auf jemanden trifft, der dort "nichts verloren" hat.

Glück für mich ist auch, dass ich eine Frau Mitte 30 bin. Viele meiner Kolleginnen arbeiten auch "nur" teilzeit oder man könnte ja auch denken ich sei vielleicht Lehrerin und die dürfen sich ja ihre Arbeitszeit auch etwas freier einteilen. Wahrscheinlich wundert ihr euch, wie viele Gedanken ich mir darüber mache, was Menschen von mir denken. Willkommen in meiner Welt. Ich weiss ja eigentlich, dass es doof ist, so viel Wert darauf zu legen, was andere von mir denken könnten. Und rein logisch gesehen, interessiert es die meisten Leute wahrscheinlich gar nicht, was und ob ich arbeite. Wobei die Menschen ja doch auch ziemlich neugierig sind (was zwar gut ist) aber auch schnell jemanden in eine Schublade zu stecken. Und die Schubladen psychisch krank, invalid, behindert, abhängig vom Sozialamt etc. sind nicht besonders hoch angesehen in der Gesellschaft. Wer ist eigentlich diese Gesellschaft? Vielleicht sind das ja auch "nur" (aber immerhin) meine eigenen Gedanken, dass man etwas leisten muss im Leben und niemanden zur Last fallen sollte. Dennoch ist es wohl nicht nur meine Wahrnehmung, dass unsere Leistungsgesellschaft nicht besonders gesundheitsfördernd ist.

Wenn man z.B. in der Schweiz aus Gründen der "Work-Life-Balance" "nur" 80 % arbeitet (also z.B. 33.6 Stunden pro Woche im Büro ist) und dann aus gesundheitlichen Gründen 50% arbeitsunfähig wird, hat man keinen rechtlichen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung. Das verdanen wir einer ziemlich unfairen Rechenmethode unserer Rechtsprechung. "iudex non calculat"... Daher mein Tipp an euch: arbeitet so viel ihr könnt, damit es sich finanziell lohnt, wenn ihr total zusammenbrecht. Sarkasmus off.

Arbeit bringt ja nicht nur Geld sondern eben auch Anerkennung und soziale Kontakte. Und wir sind nunmal soziale Wesen, die einander brauchen. Glücklicherweise muss ich mir darum nicht auch noch Gedanken machen, da ich ein tolles Umfeld habe, egal was ich beruflich mache. Die Anerkennung habe ich auch schon bekommen, weil doch schon zwei drei wirklich tolle Komplimente für meinen Blog dabei waren. Fehlt also nur noch das Geld. Vielleicht sollte ich einfach ein Fund-Raising für ein Buch-Projekt (Idee ist supergeheim) aufmachen. Die Spenden könnt ihr dann von den Steuern abziehen, das wäre quasi win-win für uns alle.

Aber nochmals zum Thema: auch die Arbeit an sich selbst (z.B. Therapie) ist mega anstrengend. Leider gibts dafür weder Geld noch Anerkennung, da man darüber normalerweise nicht spricht. Man kann schon froh sein, wenn man die Therapie nicht selbst bezahlen muss. Und soziale Kontakte in Form des Therapeuten... ja, ok, besser als nichts aber ich glaub auch nicht dass er mir so gut zuhören würde, wenn die Krankenkasse das nicht bezahlten würde.

Oh ich habe fast die Tagesstruktur vergessen. Die hat man nämlich auch nicht, wenn man arbeitsunfähig ist. Und die Struktur ist so wichtig für die Gesundheit. Hm. Ja teilweise. Ich bin da wieder ein bisschen rebellisch, weil ich mich nicht gerne in solche Formen pressen lassen will. Wenn man sich gut fühlt oder "gesund" ist, ergibt sich automatisch eine ausgewogene "Tagesstruktur", ohne dass man sich dafür einen Stundenplan machen muss. Zum Beispiel habe ich heute morgen Yoga gemacht, war mit Hündli spazieren, duschen, kochen, essen, schreiben, mit der netten Frau vom Arbeitsamt telefoniert und bin schon wieder am schreiben. Nachher mach ich noch Wäsche, nochmal Spazieren, Abendessen zubereiten, meditieren, schlafen. Und ihr denkt, mir sei langweilig :) Die Wahrheit ist, ich verstehe jetzt die Pensionierten, die nie Zeit haben. Es gibt immer was zu tun.

Mir wurde mal gesagt, dass Menschen an ihrem Lebensende etwas am meisten bereuen: dass sie zu viel gearbeitet haben im Leben. Diese Reue kann ich mir immerhin ersparen. Und ich glaube, man sollte bei der Arbeit unterscheiden, ob es etwas ist, was man gerne macht oder machen muss. Diese Schreibarbeit macht mir ja wirklich Spass und niemand zwingt mich dazu (ausser mein Wunsch nach Verständnis und Gerechtigkeit) also ist es vielleicht gar keine Arbeit. Jedenfalls keine erwerbstätigkeit, da kein Erwerb generiert wird. Hab gerade gegooglet, es gibt wohl auch in der Philosophie den Begriff der Arbeit als "Prozess der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen". Und ohne jetzt Genaueres darüber zu wissen, subsumiere ich jetzt das Blogschreiben unter philosophischem Arbeiten. Somit habe ich jetzt nach dieser ganzen Arbeit eine Pause verdient.